Pasolini

PASOLINI
Theater St. Gallen, Premiere 23. Februar 2010

„Mit der Uraufführung eines eigenen Tanzstücks hat Marco Santi, der neue Chef der Tanzkompanie am Theater St. Gallen, seinen „Einstand“ nun auch auf der großen Bühne gegeben, nachdem er zuvor bereits zwei Produktionen im Foyer und im Studio herausgebracht hatte. „Pasolini“ ist der Versuch einer Annäherung an das Schaffen des 1975 im Alter von 53 Jahren ermordeten Filmregisseurs und Literaten Pier Paolo Pasolini, gesehen aus der Optik seines 17-jährigen Mörders Pino Pelosi. Doch der Ermordete scheint allgegenwärtig: in Szenen, die Ausschnitten aus seinen Filmen nachempfunden sind; in Texten, auf einen Autoreifen geschrieben oder auf den Boden projiziert; in Videopassagen auf durchschimmernder Leinwand – besonders eindrücklich die ratternde alte Schreibmaschine, mit der eine unsichtbare Hand Wort an Wort und Zeile an Zeile reiht; in Bildern von poetischer Intensität, aber ebenso in Auftritten voll ungezügelter sexueller Aggressivität.

Die Bilder reihen sich aneinander ohne äußeren Zusammenhang, und doch entsteht allmählich ein Erzählstrang, der sich durchzieht durch die ganze Aufführung, geknüpft aus Episoden, die unmittelbar an Filme oder Filmszenen anknüpfen, andern, die wiederkehrende Themen im Werk Pasolinis aufgreifen und variieren.

Dem Körperstaccato in den Szenen „Ragazzi di vita“ oder „Vergewaltigung“ – in ihrer erbarmungslosen Direktheit nur schwer erträglich – steht das traumhafte Erscheinen der „Callas“ gegenüber, während Alberto Franceschini in „Ninetto“, einer dem langjährigen Geliebten und Freund des Künstlers gewidmeten Szene, in einer fast zärtlich wirkenden Pantomime mit vier Autoreifen spielt, sie bald über die Bühne rollt, bald als Turngerät benutzt.

Und irgendwo oder irgendwann erscheint immer wieder Pino Pelosi (Sebastian Gibas): Er mischt sich unter die „Ragazzi di vita“, schleicht das Paar an, das sich in hemmungsloser Gier umschlingt, liegt als stiller Beobachter am Rande der Bühne. Mühsam entziffert er den auf einen Pneu geschriebenen Text, stotternd, manchmal zwei- oder dreimal ansetzend, allmählich begreifend und aus dem Begreifen in ein irres Lachen verfallend. Solche Bilder sind gleichsam Kontrapunkte zwischen manchen schrillen Passagen, setzen dem Lauten das Leise entgegen; sie bleiben haften, während die brutalen Szenen vorab durch akrobatische Virtuosität und eine die zwölf Tänzerinnen und Tänzer bis zum Äußersten fordernde Aggressivität beeindrucken, bisweilen gar abschrecken. In diesen stillen Momenten ist ein anderer Pasolini gegenwärtig – ein verletzlicher, an seiner Zeit leidender und letztlich zutiefst pessimistischer Mensch. Ihm vor allem scheint sich Marco Santi in seiner choreografisch differenzierten Inszenierung zu nähern, unterstützt darin durch die Musik, in der Roderik Vanderstraeten J. S.Bach und Antonio Vivaldi ebenso und durchaus „wörtlich zitiert“ wie Rhythmen der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Und die Bühne, von Katrin Hieronimus mit hohen Stellwänden flexibel gestaltet, lässt zusammen mit Guido Petzolds Lichtgestaltung Raum – für den Tanz, die Bewegung, doch nicht minder für Weite und Tiefe und ein Hinausgreifen in geistige Räume.“ (Peter E. Schaufelberger)

Choreographie: Marco Santi
Komposition & Sounddesign: Roderik Vanderstraeten
Bühne: Katrin Hieronimus
Video: Kristian Breitenbach
Kostüm: Katharina Beth

Tanzkompagnie des Theaters St.Gallen

Fotos: Roderik Vanderstraeten

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